Anzeige
JAHRESRÜCKBLICK

Friedland: Angespannte Nerven, Stillstand, Todesangst

Friedland: Angespannte Nerven, Stillstand, Todesangst Bildunterschrift anzeigen Bildunterschrift anzeigen

Die Ortsdurchfahrt in Groß Schneen während der A 38-Sperrung: Deutlich mehr Autos und Lastwagen rollen Richtung Göttingen durch den Ort. FOTO: CHRISTINA HINZMANN

Wie sich die Sperrung der A 38 im November auf das Leben an den Umleitungsstrecken und auf den Schlaf auswirkt, wird bereits als „Katastrophe“ bezeichnet.

Friedland. In Friedland geht nichts mehr. Dem Bahnübergang sei Dank wäre das für die Menschen in dem Ort südlich von Göttingen keine neue Erfahrung – alle paar Minuten schließen die Schranken und der Verkehr kommt zum Stillstand, das geht seit Jahrzehnten so. Aber im November ist es etwas anders. Denn der Rückstau zieht sich plötzlich quer durch den Ort, über Hunderte von Metern. Einen großen Teil des Staus machen Lastwagen aus. Sie alle würden jetzt eigentlich über die A 38 in Richtung Drammetal und dann weiter nach Göttingen und Hannover fahren. Doch die Autobahn ist dicht – Bauarbeiten. Das bedeutet für Friedland eine Belastungsprobe – und für Groß Schneen und Klein Schneen, für Witzenhausen und Hedemünden. 

Weil auf der A 38 die Fahrbahn erneuert wird, müssen Auto- und Lastwagenfahrer an der Anschlussstelle Friedland die Autobahn verlassen und dann entweder über Friedland Richtung Göttingen (U99) oder über Witzenhausen Richtung Kassel (U76) fahren. Das geht seit Wochen so. 

„Katastrophe“ in Friedland

Für Menschen wie Ursula Schreiber macht das den simplen Gang durchs Dorf kompliziert. Die einzige Fußgängerampel über die Witzenhäuser Straße hilft zwar beim Überqueren – aber nur bedingt, wenn während der Grünphase für Fußgänger ein Lkw im Weg steht. Gut überqueren, sagt Klaus Trumper, könne er die Straße hier nicht mehr. 

„Wenn alles vor dem Bahnübergang wartet, stelle ich mich auf den Kreisel und regle den Verkehr“, merkt Schreiber trocken an und schiebt dann schnell hinterher: „Natürlich nicht. Ich bin ja nicht lebensmüde.“ Für sie lässt sich die Verkehrssituation in Friedland während der A 38-Sperrung in einem Wort zusammenfassen: „Katastrophe.“ Im Supermarkt nebenan heißt es: Mehr Verkehr ja – mehr Kundschaft nein. Profitieren kann Friedland also von der Umleitung nicht. 

Die Lage wird dadurch noch einmal verschärft, dass zur Zeit noch zusätzlich zu diversen Regional- und Güterzügen sämtliche ICEs zwischen Göttingen und Kassel durch Friedland fahren – die Schnellfahrstrecke ist ebenfalls Baustelle. Das hält natürlich auch Busse auf. Die Schulbusse zwischen Friedland und Groß Schneen, berichtet Leone Lingenphoenix, hätten zurzeit teils deutliche Verspätungen. Immerhin: Am Ortseingang aus Richtung der Autobahn steht ein mobiler Blitzer und bremst den Verkehr aus. 

Tempo 30 in Groß Schneen

In Groß Schneen ist die Lage auf den ersten Blick weniger dramatisch. Hier rollt der Verkehr mit relativ geringer Geschwindigkeit, aber kontinuierlich über die ehemalige Bundesstraße. Erst vor gut einem Jahr wurde hier das Tempolimit auf 30 km/h heruntergesetzt. Das reduziert zumindest den Lärm, und der Verkehr staut sich mangels Bahnübergang auch nicht so heftig wie in Friedland. Wirklich daran halten würden sich aber nicht alle, berichtet Sebastian Kick von der Apotheke Groß Schneen: „Man weiß nie genau, ob man es jetzt vor dem nächsten Auto auf oder über die Straße schafft.“ Ihm täten aber vor allem die „Brummifahrer“ leid, schiebt Kick hinterher – die müssen ihre Fahrzeuge schließlich durch enge Ortsdurchfahrten statt über die geräumige Autobahn steuern. 

Warum eigentlich? Das fragen sich viele in der Region, zum Beispiel Friedlands Ortsbürgermeister Hoy. Denn die Richtungsfahrbahn Halle/ Leipzig ist ja frei, man könnte also doch den Verkehr einspurig an der Baustelle vorbeiführen. Nein, sagt die Autobahn GmbH des Bundes – wegen der „grundhaften Erneuerung“ der Fahrbahn reiche der Platz dafür nicht aus. 

So kommt es, dass in den vergangenen Wochen Abschnitt um Abschnitt der A 38 gesperrt wurde. Die Umleitungen wandern mit der Baustelle, und so sind alle paar Wochen andere Dörfer im Umland dran, die Umleitung auszuhalten. 

Umleitung raubt den Schlaf

Wie in Friedland hilft auch in Groß Schneen nur eine einzige Fußgängerampel über die Landstraße. Vom Ober- ins Unterdorf ist der Weg mit dem zusätzlichen Verkehr nicht einfacher geworden, berichtet Ortsbürgermeister Ralf Uschkurat (SPD). Antje Umbach in der Bäckerrei Könnecke findet das vor allem für Kinder problematisch. Passend dazu rauscht gerade, als sie davon berichtet, ein Lkw mit deutlich über 30 km/h vor dem Schaufenster vorbei. Anwohnerin Renate Jütte-Freter erklärt, viele im Ort kämen aktuell zu spät zu Terminen, weil es auf der Straße langsamer vorangehe. Jeder im Dorf schimpfe auf die Umleitung. 

Diese Aussage bestätigt sich bei weiteren Gesprächen im Ort: Sie könne nachts das Fenster nicht mehr geöffnet lassen, berichtet Anja Schwarzrock. Zu laut sei es wegen der Umleitung. Sonnabends habe sie bislang immer völlig entspannt über die Straße zum Bäcker gehen können. Jetzt sei es schwierig geworden, auf die andere Straßenseite zu kommen, selbst am Sonnabendmorgen. Mit Verspätungen kalkulieren muss auch Marko Aleksic. Er arbeitet an der Tankstelle in Groß Schneen, wohnt aber in Friedland. Fährt er zur Arbeit, steht er oft vor dem Bahnübergang. „Das ist das Schlimmste“, sagt der junge Mann. Aleksic hat deutlich mehr Kundschaft, seit der Umleitungsverkehr durch Groß Schneen rollt. Da habe er jetzt manchmal richtig Stress, sagt er. 

A 38 bei Göttingen wegen Bauarbeiten gesperrt: Sorge vor dem Verkehrskollaps

Weiter nördlich rollt der Umleitungsverkehr über die Reinhäuser Landstraße nach Göttingen hinein, dann über die Bürgerstraße und die Kasseler Landstraße. Also mitten durch Geismar und Grone sowie über den Innenstadtring. Gerade am Morgen, wenn auf der ohnehin engen Reinhäuser Landstraße der örtliche Berufsverkehr und die von der Autobahn umgeleiteten Autos und Lastwagen aufeinander treffen, kommt es vor Göttingens südlicher Stadtgrenze zu Rückstaus. Die Ortsbürgermeister Uwe Löding (Geismar) und Birgit Sterr (Grone, beide SPD), berichten aber, sie hätten noch keine Beschwerden von Anwohnern zu hören bekommen. 

Nicht besser ist die Lage übrigens entlang der Umleitungsstrecke in Richtung Kassel: Quer durch das hessische Witzenhausen führt die B 80, Tag für Tag herrscht hier in diesen Wochen Stau. „Verstopft“ sei die Ortsdurchfahrt, Tag für Tag, sagt Bürgermeister Lukas Sittel (SPD). Zu den Stoßzeiten am Morgen und Nachmittag gehe praktisch nichts mehr – weder nach Witzenhausen hinein noch aus Witzenhausen hinaus. Noch in diesem Monat sollen Erneuerungsarbeiten an der Werrabrücke der in die B 80 mündenden B 451 beginnen. Dann könnte es zum Verkehrskollaps kommen, fürchtet der Bürgermeister. 

Todesangst in Klein Schneen

Bemerkenswert: Bei allem Klagen über die eigene Situation verweisen unabhängig voneinander Groß Schneer und Friedländer auf die Lage in Klein Schneen. „Es ist eine Katastrophe“, sagt zum Beispiel Friedlands Ortsbürgermeister Joachim Hoy (CDU). Klein Schneen liegt eigentlich fernab der Umleitungsstrecken. Aber wer in Friedland im Stau steht, entschließt sich offenbar bisweilen, lieber dem Navigationsgerät zu trauen als der Beschilderung. Und anders als Reckershausen, wohin von der Autobahnabfahrt Friedland ebenfalls eine Straße führt, die aber bei Google Maps aktuell (fälschlicherweise) als gesperrt markiert ist, hat Klein Schneen kein Glück. 

Das Problem in dem Dorf nördlich von Friedland: Die Ortsdurchfahrt ist eng und kurvenreich. Gehwege gibt es hier nicht denn eigentlich ist hier auch kein nennenswerter Durchgangsverkehr vorgesehen. Doch in diesen Wochen lenkt ein auswärtiger Auto- und Lastwagenfahrer nach dem anderen sein Fahrzeug durch das Dorf. „Ich gehe abends nicht mehr spazieren“, sagt eine junge Frau, die gerade auf dem Weg zu Klein Schneens einziger Bushaltestelle ist. Begründung: „Ich habe Angst, zu sterben.“ Langsam fühle sie sich richtig geübt darin, in Hecken zu springen, um nicht von einen Lastwagen erfasst zu werden. Man spekuliere im Ort schon darauf, dass die vor wenigen Jahren erneuerte Brücke über den Schneenbach (ohne Gewichtsbegrenzung) einstürze - dann hätte man wieder Ruhe. Bleibt die Brücke stehen, müssen sie in Klein Schneen und all den anderen Dörfern noch einige Wochen mit dem Verkehr leben.