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Internationale Händel-Festspiele Göttingen

„Ich glaube fest daran, dass es gut ist, wenn man immer wieder neue Ideen zulässt“

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Intendant Jochen Schäfsmeier FOTOS: PETER HELLER

Jochen Schäfsmeier ist der neue Geschäftsführende Intendant der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen. Er folgt auf Tobias Wolff, der Intendant der Oper in Leipzig geworden ist. Im September organisiert Schäfsmeier seine ersten Festspiele in Göttingen.

Interview mit Intendant Jochen Schäfsmeier

Tageblatt: Herr Schäfsmeier, wie geht es Ihnen hier in Göttingen?

Sehr gut! Toll hier in Göttingen ist, das merke ich, dass die Händel-Festspiele wirklich eine Göttinger Erfindung sind und die Bürger dahinterstehen. Also wenn ich hier sage, wer ich bin, fällt jedem etwas zu den Festspielen ein – so wie es in Deutschland 80 Millionen Bundestrainer gibt, gibt es in Göttingen 120000 Gründungsmitglieder der Händel-Festspiele. Aber das ist sehr angenehm, sehr sympathisch, und es schwappt mir eine große Welle an aufrichtigem Wohlwollen entgegen. Und das nach einem Jahr, in dem man das große Jubiläum 100 Jahre Händel-Festspiele nicht feiern konnte. Da tut es gut, wenn es gewollt ist, dass wir das jetzt wirklich umsetzen.

Wie steht es denn mit Ihren Planungen für das kommende Festivaljahr?

Die inhaltlichen Planungen sind vor allem die Aufgabe von George Petrou als neuem Künstlerischen Leiter. Wir tauschen uns dabei natürlich regelmäßig und intensiv aus. Aber das ist ja das Reizvolle an den Wechseln, dass man Gelegenheit hat, einen neuen Blickwinkel auf die Festspiele zu bekommen. Ich selbst kann im Moment einfach nichts Neues kennenlernen, weil es nichts gibt, was ich mir angucken kann. Und wenn es etwas gibt, kann ich es nur bei Youtube erleben. Das ist irgendwann von überschaubarer Attraktivität. Gut möglich also, dass 2022 eine Anmutung von Übergangsjahr haben wird. Ich finde das für mich persönlich nicht so schlimm. Wir haben ein sehr internationales Ensemble, internationale Künstler, und dann hoffentlich auch wieder ein großes, internationales Publikum.

Sie verspüren bei Ihrem Start in Göttingen jetzt keine Unruhe? Wenn man neu an einem Ort ist, hat man doch wahrscheinlich das Gefühl, sich beweisen zu müssen. In einer pandemischen Situation mag das gar nicht so einfach sein.

Die Pandemie hat ja ein bisschen wie ein Brennglas auf viele Entwicklungen gewirkt. Das ist ein Druck, an dem ich nichts ändern kann. Ich bin 30 Jahre mit Orchestern um die Welt gereist. Da waren immer wieder Situationen, bei denen ich dann irgendwann mal sagte, wenn ich es nicht ändern kann – wie sagt man so schön: Mund abwischen und weiter.

„Ich glaube fest daran, dass es gut ist, wenn man immer wieder neue Ideen zulässt“-2

"Toll hier in Göttingen ist, das merke ich, dass die Händel-Festspiele wirklich eine Göttinger Erfindung sind und die Bürger dahinterstehen."

Sie haben gerade gesagt, sie sind 30 Jahre lang mit Orchestern um die Welt gereist. Wie muss man sich das vorstellen? Und mögen Sie jetzt nicht mehr gerne reisen?

Mein Handwerk im Orchester-Management habe ich gelernt mit dem Jeunesses Musicales Weltorchester, einem Jugendorchester. Das hatte das Motto „100 Musiker aus 40 Ländern“, und es war meine Aufgabe, die in einer Sommer-Arbeitsphase irgendwie durch die Welt zu lotsen. Das war dann manchmal schon eine Herausforderung, gerade was Visa angeht, was all diese internationale Kommunikation betrifft. Im Jahr 2000 haben wir nach dem Balkankonflikt eine große Bustour mit diesen 40 Nationen durch die früheren jugoslawischen Staaten gemacht. Wir waren in Belgrad, das kurz vorher noch von den Amerikanern bombardiert worden war. Das sind Krisensituationen, mit denen muss man in dem Moment umgehen. Dann war ich bei Concerto Köln. Mit denen bin ich 15 Jahre lang viel um die Welt gereist. Ich glaube, dass so etwas prägt. Es gibt bestimmte Sachen, die muss man gut vorbereiten, damit es funktioniert, und Manches entzieht sich der Kontrolle.

Und wie steht es mit Ihrer Reiselust?

Es hat mir immer ein bisschen gefehlt, irgendwo mal an einem Ort zu sein. Wir machen ja Kultur, weil wir etwas bewegen wollen, etwas verändern wollen, und nicht nur, weil wir jetzt mit dem Konzert in der schönen Stadt im schönen Hotel sein wollen und damit unser Geld verdienen. Das ist ein bisschen schwierig, wenn man immer nur für eine Nacht da ist. Und die Händel-Festspiele sind natürlich nicht irgendeine Adresse. Es ist das älteste Festival für Alte Musik, für historische Aufführungspraxis. Es hat eine große Bedeutung und ist eine tolle Aufgabe. Was mich außerdem extrem interessiert, ist diese bürgerliche Verankerung. Händel hatte mit Göttingen nie etwas zu tun. Aber dann gab es jemanden, der seine Musik toll fand. Und irgendwie lässt sich eine ganze Stadt über ein ganzes Jahrhundert davon infizieren. Besser kann es einem Intendanten ja gar nicht gehen! Aber ich reise natürlich gerne.

Wohnen Sie schon in Göttingen? Haben Sie eine Wohnung hier gefunden?

Ja, ich wohne inzwischen hier. Das war unser Running Gag: Ich hatte so ein bisschen Mühe mit meinem Vormieter, weil er die Wohnung nicht verlassen wollte. Aber: Das war Tobias Wolff. Ich habe seine Wohnung übernommen. Meine Frau arbeitet noch in Köln. Ich will natürlich meinen Lebensmittelpunkt nach Göttingen holen. Aber das soziale Umfeld ist noch im Rheinland. Meine Frau arbeitet dort, und es ist natürlich toll, wenn man die große Philharmonie und das große Opernhaus dort vor Ort hat. Das hilft auch für die Arbeit in Göttingen. Meine Frau, sie kommt aus Kanada, sagt, Göttingen ist die schönste Stadt, die sie in Deutschland gesehen hat. Sie hat sich hier sehr schnell sehr wohl gefühlt, und daher weiß ich gar nicht, wo wir am Ende häufiger sein werden.

"Und die Händel-Festspiele sind natürlich nicht irgendeine Adresse. Es ist das älteste Festival für Alte Musik, für historische Aufführungspraxis. Es hat eine große Bedeutung und ist eine tolle Aufgabe."

Aber ich vermute schon, dass Ihnen hier in Göttingen das ein oder andere fehlt, was ihre kulturellen Vorlieben angeht, oder?

Die Philharmonie in Köln war mein Wohnzimmer. Es gab Zeiten, da war ich drei-, viermal in der Woche dort und habe alles gehört, was man hören konnte. Das ist hier nicht möglich. Ich bin sehr froh über die Göttinger Symphoniker, aber es ist natürlich ein Unterschied, ob du ein Orchester hast oder einen Konzertsaal, der immer bespielt wird. Diese Inspiration werde ich mir auch in Zukunft immer wieder holen müssen, sonst werden die Festivals ja nach drei, vier Jahren langweilig.

Jetzt können Sie sich hier ja abends nicht in der Philharmonie herumtreiben. Was machen Sie am liebsten in Göttingen? Haben Sie schon einen Lieblingsort entdeckt?

Also im Moment habe ich noch eine 60-Stunden-Woche. Das erlaubt es mir noch nicht, vieles zu entdecken. Ich habe auch Einladungen zu den Premieren im Theater bekommen, zu denen ich sehr gerne gegangen wäre. Ich finde das Theater, was ich bisher gesehen habe, total faszinierend. Und allein die Möglichkeit, dass man draußen spazieren gehen kann, dass man direkt draußen ist, das finde ich schon sehr entspannt. Und ich freue mich sehr, wenn die Basketball-Saison wieder losgeht. Ich hoffe, dass ich sehr viele Spiele sehen kann.

Ah, Sie sind ein großer Basketball-Fan?

Ich bin ein großer Sportfan. Als ich in Berlin gearbeitet habe, war ich immer bei Alba Berlin, und in Paderborn gab es auch mal eine Zweitliga-Mannschaft. Die habe ich zu meiner Abiturzeit erlebt. Ich hatte da immer eine Affinität. Fußball ist in Göttingen ja ein bisschen in der Diaspora. Darum freue ich mich auf den Basketball.

Das heißt, Sie sind auch Fan des 1. FC Köln?

Nein! Ich bin eigentlich Kaiserslautern-Fan. Ich durchlebe gerade schwere Zeiten.

Ich weiß von Ihrem Vorgänger, dass der gesungen hat. Singen Sie? Musizieren Sie?

Das Einzige, was ich jemals wirklich gelernt habe, ist Klarinette spielen. Ich bin ausgebildeter Klarinettist. Was natürlich eine gewisse Ironie bringt, weil es ja das Instrument ist, das in der Barockmusik nie vorkam. Und seit 20 Jahren bin ich der Barockmusik verhaftet. Ich habe in Saarbrücken Klarinette studiert, habe aber dort auch schon Orchester-Management angefangen. Ich bin eigentlich über eine evangelische Kantorei im katholischen Paderborn zur Musik gekommen. Weihnachtsoratorium! Wenn ich jetzt ins Konzert gehe, dann springe ich. Ich habe das in allen Stimmen gesungen. Ich habe als Knabe im Sopran angefangen, und bin dann kurz über den Alt im Stimmbruch in den Bass gewandert.

"Die Alte Musik hat kein Relevanz-Problem, sie hat ein Darstellungsproblem."

Sind sie jemand, der dem Göttinger Publikum etwas abverlangen wird?

Ich möchte es nicht langweilen, ich möchte es aber auch nicht bekehren. Wir haben jetzt 100 Jahre Festspiele hinter uns, das 101. ist bestimmt weniger herausfordernd. In den vergangenen Jahren lag der Fokus doch sehr darauf, wie man dieses ganz besondere Jubiläum feiert, das ja jeder nur einmal, wenn überhaupt, erleben kann. Ich glaube, dass die Herausforderung jetzt eine andere ist. Das alles geht ja nur, wenn wir es schaffen, diese Überzeugung, dass dieses von der Göttinger Gesellschaft getragene Festival etwas Besonderes ist, in die nächste Generation zu tragen.

Müssten Sie jetzt tiefer in die Schule gehen? Oder an die Universitäten?

Genau! In den Schulen wollen wir ein großes Angebot realisieren. Das ist ja nicht ganz neu. Mit dem Händel 4 Kids!-Programm war in den vergangenen Jahren schon viel an Vermittlung da. Das hat die Universität Hildesheim evaluiert. Ein Ergebnis dieser Evaluation war, dass wir vielleicht längerfristig mit den Schulen arbeiten und dass wir den Schülerinnen und Schülern einen festen Platz im Festival geben. Aber Vermittlungsarbeit ist ja nicht nur etwas für Kinder und Jugendliche. Vielleicht sind ja die Händel-Festspiele eine Möglichkeit, Leute, die sich vielleicht mehr beim Basketball bewegen, für klassische Musik zu interessieren.

Gibt es im Moment ein Relevanz-Problem bei der Alten Musik? Oder würden Sie sagen, es liegt einfach nur in ihrer neuen Rolle als Intendant?

Die Alte Musik hat kein Relevanz-Problem, sie hat ein Darstellungsproblem. Man ist dort gelandet, wovor man vor 30, 35 Jahren gewarnt hat. Diese Diskussionen, warum man ein Ticket für die Leute subventioniert, die sowieso zur finanziellen Oberschicht gehören, wird geführt. Muss man 80 Euro für jedes Ticket an Subventionen dazu geben? Diese Debatten werden in den kommenden Jahren wegen Corona nicht leiser werden. Ich glaube aber, das Beste ist, dass man gute Arbeit macht, und ich sehe gar keinen Unterschied, ob wir das sind oder die freie Szene. Ich glaube, jeder sollte verstehen, dass das Geld, das er bekommt, ein Vertrauensbeweis ist. Und dem muss man gerecht werden. Die Mahnung, dass das Publikum der klassischen Musik vielleicht überaltert sei, teile ich nicht so ganz. Ich finde es spannend zu erläutern, warum man nicht erst solche Haare haben muss wie ich, damit man klassische Musik hören kann (lacht). Das kann für Jugendliche oder junge Erwachsene genauso spannend sein.

Apropos Jugend: Wo sind Sie aufgewachsen?

Ich bin in Lehrte geboren, ja, ich bin Niedersachse. Aber nach fünf Monaten, glaube ich, sind wir weiter gezogen nach Heilbronn, wo wir sechs Monate gewohnt haben, bevor ich im Saarland zwei Jahre gewohnt habe und dann nach Paderborn, wo ich eigentlich aufgewachsen bin. Ich habe die ganze Schulzeit dort verbracht und war sogar der erste protestantische Messdiener im Erzbistum Paderborn. Von da aus bin nach Saarbrücken zum Studium gegangen, dann über Berlin und Hamburg nach Köln. Und jetzt bin ich hier bei Ihnen gelandet.

Seit wann ist Göttingen auf Ihrer Landkarte?

Meine Eltern haben sich hier kennengelernt. Meine Großeltern haben hier gewohnt. Von daher ist es auf meiner Landkarte, seit ich denken kann. Ich habe in der Kindheit oft meine Ferien hier verbracht. Als ich jetzt zurückgekommen bin, war ich erstaunt, wie klein das Haus geworden ist und dass die Stadthalle von da oben gar nicht ganz weit weg ist (lacht). Für meine Eltern ist das toll, dass es jetzt wieder einen Kontakt nach Göttingen gibt.

Dann können wir Sie als heimgekehrten Sohn betrachten?

Eher als zurückgekehrten Enkel (lacht).

Theater-Intendanten haben immer Verträge mit einer bestimmten Laufzeit. Sie auch?

Ja. Das macht auch viel Sinn. Ich glaube fest daran, dass es gut ist, wenn man immer wieder neue Ideen zulässt. Das ist für jemanden, der etwas auf Lebenszeit macht, nicht ganz leicht. Mich fängt Kunst an zu langweilen, wenn ich das Gefühl habe, ich habe das schon ein paarmal gesehen. Man geht ja ins Konzert, ins Theater, in die Oper, um irgendwie inspiriert zu werden.

Läuft ihr Vertrag auch fünf Jahre?

Fünfeinhalb – aber nur, damit man das Geschäftsjahr auch beendet. Das passt ganz gut, das eine Festival abzuschließen und dann noch bis zum September durchzuziehen. Ob man das verlängert, wird sich zeigen. Aber ich muss ja erstmal anfangen, bevor ich über Verlängerung rede (lacht).

Dann lieber über Fußball reden?

Es war immer so – egal in welche Stadt ich kam – dass die Fußballmannschaft abgestiegen ist. Saarbrücken stieg ab. Ich kam nach Hamburg, St. Pauli stieg ab. Ich kam nach Berlin, die Hertha stieg ab. Erstaunlich ist, dass ich noch nie von anderen Städten ein Angebot bekommen habe, nach München zu ziehen, damit da die Mannschaft absteigt (lacht).

Herr Schäfsmeier, vielen Dank für das Gespräch. pek